IppioPayo/GeneLabo - NAQ

Auf auf, in die Nacht. Wir lassen Haus, lassen Land. Kein Morgentau hält uns! Fort mit uns, ins dunkle Meer! Wir verlassen uns auf das Boot, es heisst Roditelj. Die Väter sind in den Bergen, sind hinter den Bergen. Das Boot hat zwei Masten, wie neue Eltern. Alte Bracera, trag uns auf Winterwellen und trotze der Bura, dem Wind aus Nordost. Trag uns weit fort, es nahen die Faschisten! Menschen sind auf der Flucht, während sich diese Platte dreht. Die Schallwellen auf dieser Platte wissen noch nicht, wohin es sie treibt. Doch Linien werden gezogen. Eine führt von Vis nach Bari, am Ende des Jahres 1943, von Jugoslawien nach Italien, von einem Camp zum Nächsten. Alte, Frauen und Kinder, Jüdinnen und verwundete Partisanen, im Geleit der süditalienischen Resistenza und der britischen Befreier. Aber die Reise fängt schon vor Vis an, mit so vielen Linien, die von so vielen anderen Inseln und Orten aus ihren Lauf nehmen. Von Makarska und Korčula, Brač und Šolta, Vodice, Hvar und anderswo, sammeln sich Zehntausende in Vis und queren die Adria. Und ihre Reise endet nicht dort, in Bari, Tuturano und Taranto. Es geht runter, auf größeren Schiffen aus Stahl, im Februar 1944. Unter schützenden Sternen und Stampfen der Maschinen unter Deck geht es runter nach Afrika! Jemand Kluges hat einmal gesagt, für Fische sind Seen Inseln. Und dennoch sind die Fische auf diesen Inseln aus Wasser nicht unbedingt in Sicherheit. So ähneln in dieser Szenerie die Flüchtenden den Fischen, in ständiger Furcht, in ein Netz zu geraten, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Das Meer ist ihnen eine Insel, aber was wird sie am anderen Ufer erwarten? Unter der Meeresoberfläche lauern Minen und U-Boote, und der Himmel droht mit Angriffen aus der Luft. Und dann öffnet sich dem Blick nichts weiter als weiter Sand. Nach Port Said, Ägypten, liegt vor uns, am Ende einer geisterhaften Bahnstrecke: El Shatt. Weiße Stoffstadt, in Reih und Glied inmitten der Wüste Sinai. Nicht Himmel, nicht Hölle. Untertags ein Fegefeuer, nachts eiskalt wie ein Grab. Anderthalb Jahre teilt sich in den britischen Segeltuchzelten die Kommune der Vierzigtausend ihr Bett und Brot, ihren in Kommitees organisierten Alltag. Es bleibt Zeit für Kulturleben mit Theater und einer Chorgruppe unter Star-Leitung von Josip Hatze aus Split. Von den unter-Zweijährigen und den Alten werden Viele das neue Jugoslawien unter Leitung von Josip 'Tito' Broz nicht mehr erleben, sie bleiben dort, unter dem Wüstensand von El Shatt. Es ist nun über zwanzig Jahre her, da mein Freund, der Musiker Josip 'Ippio Payo' Pavlov, in Zagreb in den Nachtbus stieg, über die Alpen fuhr und in München eine neue Heimat fand. Ein Denken in Nationalismen ist Josip, der auf der Insel Murter aufwuchs und sich selbst als Illyrer bezeichnet, völlig fremd. Die Historie von El Shatt begleitete ihn erst, als er vor zwei Jahren auf Solo-Tour mit Bus und Bahn und der Buchlektüre von Alida Bremers „Olivas Garten“ in Süditalien zwischen Bari und Taranto unterwegs war. Zurück in München, war es Gene 'Genelabo' Aichner, der El Shatt als Handlungsanweisung verstand, die Fluchtgeschichte als Leitmotiv für eine Audiovisuelle Performance aufzugreifen. In Korrespondenz zu Josips musikalischem Uhrwerksystem aus Gitarrenläufen und Arpeggios, Standpauken- Glockenspiel und elektrischer bis elektronischer Raumerweiterung, entwirft Gene Räume aus Projektionsverläufen und Mapping. Live im Spiel wirft Gene dann über Josips Klangrauschen sein Netz aus Lichterlinien, das sich im Rhythmus dreht und wandelt, mal das fluide Wesen des Wassers nachzeichnet, mal die Wände auf- und abklettert. Grenzlinien verschieben und auflösen, ein Spiel mit offenem Ausgang. (Pico Be)