Musiker-Treffen im Chatroom. Der Takt danach
Ein New Yorker Pianist und zwei Münchner DJs diskutieren über die musikalische Verarbeitung des 11. September - ein Chat. (SZ vom 11.09.2002)
Ein Tag, drei Künstler, zwei gegensätzliche Ansätze. Der 11. September inspirierte die Münchner DJs Albert Pöschl und Ralf Summer - sie nennen sich Diska - zu USA-kritischer elektronischer Tanzmusik. Ihre aktuelle CD heißt "America's The Bomb".
Der in München geborene, in New York lebende Jazzpianist Ulrich Geißendörfer hat den Einsturz des World Trade Centers mit eigenen Augen gesehen. Daraufhin improvisierte er einen ruhigen, 80-minütigen Zyklus mit dem Titel "Transformation".
Bislang wussten beide Seiten nichts voneinander. Für die SZ setzten sich Diska in München und Geißendörfer in New York zu einem Chat an ihre Computer und tauschten eine Nacht lang schriftlich ihre Gedanken aus. Das Internet war nach dem 11. September das am besten funktionierende Kommunikationsmittel.
Diska: Wir sind nach einem Konzert nach München gefahren und haben die Meldung im Autoradio gehört. Es war unglaublich. Wie ein Film.
Geißendörfer: Ich wurde von meiner Nachbarin um kurz nach 9 Uhr morgens geweckt. Sie stand völlig verzweifelt in der Tür und meinte, dass gerade zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen seien. Ich machte mir erst mal einen Kaffee, als ich einen irren Knall-Sound-Krach hörte. Worauf ich sofort nach oben lief, live den zweiten Turm durchs Fenster wie auch im TV einstürzen sah. Gleichzeitig kam die Meldung aus Washington. Eine Stunde später war bei uns die Sicht auf 40 Meter reduziert, von all dem Schutt, den der Wind zu uns blies.
Diska: Wir hatten Angst vor einem Dritten Weltkrieg, davor, dass nichts mehr so sein wird wie es einmal war. Drei Tage später stand ein Auftritt beim Hausmusik-Festival in München an. Da wurde schon diskutiert, ob es ausfallen muss oder die Musiker Statements auf der Bühne abgeben sollen. Wir waren der Meinung, dass falsche Betroffenheit niemandem nützt.
Geißendörfer: Hier war die Verwirrung unendlich. Plötzlich war es wie Krieg. Wir eingeschlossen auf einer Insel (Long Island-Brooklyn- Queens), da alle Brücken zu waren. Ich verbrachte den Nachmittag mit Freunden, wobei ich erst nachts anfing zu kapieren, was passiert war. Ich wollte eigentlich in einer heilen Welt aufwachen. Mich beeindruckte die Tatsache, dass um die ganze Welt plötzlich Ruhe war für einen Tag und mehr. Fast alle Menschen waren in Stille, in unfasslicher Leere vereint.
Diska: In der Woche danach hat wahrscheinlich kein Musiker auf der Welt an neuen Stücken arbeiten können.
Geißendörfer: Es dauerte drei Tage, bis ich spielen konnte/wollte, was sehr lange ist für mich. Ich fing an, Gedichte/ Prosa zu schreiben und mich auch sonst gesamtkünstlerisch zu betätigen. Nach zehn Tagen war ich im Studio, angetrieben von einer Freundin, und versuchte, meinen Gefühlen im Rahmen einer völlig freien Improvisation Lauf zu lassen. Das hatte ich vorher als Aufnahmetechnik noch nie gemacht.
Diska: Bei uns hat es auch einen Monat gedauert, bis wir arbeiten konnten. Dann begann schon die Reaktion darauf, dass sich unserer Meinung nach der Westen und die USA öffentlich nicht gefragt haben, wieso dieser Anschlag passiert ist. Amerikas Reaktion war von hier aus betrachtet komplett patriotisch.
Diska: Wieso mulmig? Weil Du jetzt auch Amerikaner bist und Dich patriotisch geben musst?
Geißendörfer: Patriotisch muss ich mich nicht geben. Ich bin ja auch zuerst mal Deutscher!
Diska: Aber wie weit darf man als Amerikaner von der neuen Patriot-Act-Linie (Anti-Terror-Gesetz der USA, Anm.) abweichen? Hast Du Künstlerfreiheit oder ist man gleich verdächtig?
Geißendörfer: Der Patriot Act hat sich bis jetzt noch nicht auf meinen Erfahrungskreis ausgewirkt. Ich und alle, die ich kenne, machen, was sie wollen. Der eigentliche Patriot Act ist immer noch, ob es sich verkauft oder nicht.
Diska: Wir sind froh, dass wir am 11. September nicht in den USA sind. Zu viele Gedenkfeiern. Den Bürgerkriegsopfern in Ruanda hat ja auch niemals jemand gedacht, obwohl die USA und die Franzosen beide Stämme gegeneinander ausgespielt und Zigtausende von Toten auf dem Gewissen haben.
Geißendörfer: Das ist wahr, aber man muss doch den Stellenwert von 9/11 (US-Kürzel für den 11. September, Anm.) sehen. So etwas gab es noch nie auf der Welt. Immerhin sind mehr als 100 Nationalitäten betroffen. Man könnte diesen Angriff durchaus als Angriff auf die gesamte westliche Welt werten.
Diska: Natürlich war der 11. September ein Angriff gegen den gesamten Westen! Wir sind gegen Fundamentalismus. Aber wir glauben, dass der Anschlag für viele machtlose, nicht-westliche Menschen das einziges Mittel schien, sich endlich gegen die von ihnen so empfundene ungerechte Übermacht des Westens zu wehren.
Geißendörfer: Das einzige Mittel? Für was? Was ändert sich? Und wer sind die vielen machtlosen, nicht-westlichen Menschen? Das war ein Anschlag einer sehr, sehr kleinen Minderheit von Fanatikern.
Diska: Es gibt mehrere Subkontinente voller machtloser Menschen! Das effektivste Mittel des Westens ist seine wirtschaftliche Macht. Damit wir unseren "parasitären Wohlstand" auf Kosten der Armen fortführen können. Aber das interessiert die Amerikaner am allerwenigsten. Darum heißt es in unserem Titel-Song "America's The Bomb": "The music's too loud, America won't listen, their show way too proud, America can't listen."
Geißendörfer: Tja, an den Scheuklappen der USA ist natürlich sehr viel Wahres dran. Wohlstand ist meist durch den Unwohlstand anderer erreicht. Nur darf man nicht einfach nur gegen die USA schimpfen. Die Probleme hier sind gigantisch.
Diska: Klingt Deine politische Meinung in Deiner Musik an? Wie taucht die unheimliche New Yorker Stille vom Tag danach in Deinen Aufnahmen auf?
Geißendörfer: Zum Beispiel heißt das letzte Stück des Albums "Transformation (transforming 911)" "Hand in Hand", geschrieben für die Paare, die Hand in Hand aus den Fenstern des World Trade Centers sprangen. Die Stille taucht in Pausen, als Atemholen auf. Ich setzte mich an den Flügel und improvisierte über die Eindrücke, zum Beispiel Schreie, Sprachlosigkeit, das Quietschen der Gebäude, der Marsch der Seele.
Diska: Wirst Du "Transformation" aufführen?
Geißendörfer: Es ist nicht wichtig, es aufzuführen, sondern es gemacht zu haben. Ich würde mich natürlich freuen, wenn ich ein Label dafür fände. Ich spiele auch mit dem Gedanken, einige Improvisationen für ein größeres Ensemble zu instrumentieren
Diska: Wir spielen unsere Songs am 11. September zum ersten mal live, im Atomic Café. Wir sind schon gespannt auf die Reaktionen. Es wird eher laut und heftig. Freunde wollen uns multimedial unterstützen: keine Twin- Towers-Einsturz-Endlos-Loops, sondern eher Reden von Noam Chomsky oder Innere- Sicherheit-Homepages-an-die-Wand-Spiegeln.
Geißendörfer: Ich hatte auch die Idee zu einer Dokumentation - der positiven Aspekte von 9/11: Der größte Teil der Menschheit hielt den Atem an, legte die Arbeit nieder und drückte Solidarität aus. Ich wollte versuchen, diese Images als Collage mit meiner Musik zu verbinden. Da diese tiefe innere Verbundenheit rund um die Welt eigentlich einer der größten Hoffnungsschimmer seit Jahrhunderten war, die Probleme unseres Globus' doch noch unter Kontrolle zu bekommen. 9/11 hat mir mehr Mut als alles andere gemacht.
Diska: Welche positiven Aspekte? Fähnchen schwingen? The United Colors of Betroffenheit? Spalier stehen? Ein deutscher Außenminister, der sagt, wir haben die Amerikaner nicht zu kritisieren? Amerikanische Künstler, die sich beim Gedenken an den 11. September gegenseitig auf die Füße steigen?
Geißendörfer: Fähnchenschwingen und so weiter ist doch okay für den, der es braucht. Die positiven Aspekte sind ein globales Erwachen gewesen. Politisch wie emotional. Ach ja, sagt mal: Ihr stellt Euch ins Atomic Café und singt amerikakritische Lieder am 11. September. Warum? Wie tragt ihr zum Verständnis dieser Tragödie bei?
Diska: Unsere Musik ist eine Antwort auf all die Betroffenheit. Neil Young und Lou Reed zum Beispiel haben uns mit ihren patriotischen Auftritten enttäuscht. Sie haben sich im Vergleich zu früher ziemlich verbogen. Wir wissen, dass wir die Welt nicht verändern werden. Aber wir wollten als Musiker ein Statement abgeben, da sich bisher in Deutschland kaum eine Band zu Wort gemeldet hat.
Geißendörfer: Warum ist das wohl so?
Diska: Die meisten Musiker denken vielleicht: Bevor ich mir die Finger verbrenne, sage ich lieber nichts. Vielleicht ist die Sprachlosigkeit zu diesem Thema auch nur ein weiterer Ausdruck des politischen Desinteresses. Vielleicht sollten wir tatsächlich nach USA kommen, dort auftreten und uns verprügeln lassen! In US-feindlichen Ländern würde ein Konzert kaum Sinn machen.
Geißendörfer: Nein, lasst mal den eigentlichen Tag, den 9 /11 in Ruhe. Danach haben die Leute vielleicht wieder offene Ohren, am Tag selbst niemals.